
Die Nachricht, dass der Strg_F Bericht „Das Schweigen der Insel“ den Bremer Fernseh- und Digitalpreis 2025 als „Bestes regionales Social Video“ erhalten hat, hat mich fassungslos gemacht. Die Begründung der Jury zeichnet sich durch Meinung im umgekehrt reziproken Verhältnis zur Kenntnis aus. Dass es erstmals gelungen sei, „sich undercover unter die Feiernden zu mischen“ und den „gewaltvollen Brauch“ im Video festzuhalten, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als heiße Luft.
Bereits 1991 wurde der Film „Klaasohm sin hunk“ des FWU veröffentlicht. Irgend etwas haben die damaligen Filmemacher besser gemacht als Strg_F. Sie interviewten auskunftswillige Haupakteure und Experten. Vereinzelter Anfeindungen zum Trotz gelangen ihnen Aufnahmen vom schlagenden Klaasohm. Die Aufregung darüber hielt sich in Grenzen, weil die Schläge als das interpretiert wurden, was sie eigentlich sind. Eine regelbasierte Ausübung von Gewalt unter gleichaltrigen Jugendlichen, die sich kennen. Weil Euphorie, Testosteron und Alkohol nicht die beste Mischung bilden, kam es damals wie heute zu Regelverstößen. Strg_F hatte das „Glück“ einen wirklich verstörenden Vorgang festzuhalten. Er belegt, dass nicht alle Jugendlichen der mit der Maskierung einhergehenden Verantwortung gewachsen sind. Aus dieser Sequenz und der Zurückhaltung potenzieller Interviewpartner konstruiert Strg_F eine Realität, die Vertuschung identifizieren und einen Bezug
zur Alltagsgewalt gegen Frauen herstellen will.
Zur Einordnung: Sieben Maskierte, davon vier Minderjährige zwischen 14 und 17 Jahren und drei junge Erwachsene, die auf einer festgelegten Route durch die Stadt geführt werden, dienen als Blaupause für ein Zerrbild. Der Bericht suggeriert, dass Männer marodierend durch die Straßen ziehen, um systematisch Frauen anzugreifen. Im wirklichen Leben kann jeder Mensch am Klaasohm Abend abseits des Festzuges ungestört seiner Wege gehen. Klaasohm ist wie vergleichbare Winterfeste im Alpenraum ein organisierter Regelbruch, bei dem die Klaasohms eine Stellvertreterfunktion einnehmen. Das geschieht nicht vorbildhaft. Allen Beteiligten ist klar,
dass man ohne die Maske und an den anderen 364 Tagen im Jahr nicht von Dächern springt, mit Kuhhörnern Gläser in der Kneipe abräumt oder andere Menschen schlägt. Die Polizeistatistik für Borkum lässt keine Rückschlüsse auf eine Verrohung der Inselgesellschaft zu. Im Jahr 2024 gab es 19 Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung und 68 Körperverletzungen. Das ist signifikant geringer als auf dem Festland, wenn man berücksichtigt, dass in den Sommermonaten von bis zu 30.000 „Einwohnern“ auszugehen ist.
In Mitteleuropa gibt es Hunderte von ähnlichen Winterfesten mit der gleichen Problematik von Regelübertretungen. Strg_F lässt beim Interview des Vertreters eines Krampusvereins jeglichen investigativen Anspruch vermissen. Unwidersprochen werden seine Aussagen als Expertise akzeptiert. Eine simple Schnellrecherche bei entsprechenden Lokalzeitungen hätte zu Tage gebracht, dass der Besuch eines Krampuslaufes unter Umständen im Krankenhaus oder auf der Polizeiwache endet. Die obsessive Fixierung auf den Borkumer Klaasoohm erweckt den Eindruck, als sei eine Person aus dem Produktionsteam persönlich betroffen und wolle offene Rechnungen begleichen.
Der einzige Realitätsbezug des Berichts, ist die Tatsache, dass durch das Fest Minderjährige und junge Frauen traumatische Erfahrungen gemacht haben. Diesen wurde zu wenig Aufmerksamkeit zuteil, was dringend mit den Betroffenen aufgearbeitet werden muss. Dazu fehlte beiden Seiten bislang die Bereitschaft, die „Simultanität widersprüchlicher Erfahrungen“ zuzulassen, weil sie jeweils die Deutungshoheit für sich beanspruchen. Obgleich sie für das Fest nicht repräsentativ sind, müssen diese Erfahrungen ernst genommen werden. Die Zeuginnen mit technischen Mitteln vor Erkennung zu schützen ist sinnvoll, um ihrem subjektiven Empfinden der Bedrohung entgegenzuwirken. Gleichzeitig werden sie damit jeglicher Überprüfung von Glaubwürdigkeit und Expertise
entzogen. Und das Stilmittel der Verpixelung erfüllt seinen dramaturgischen Zweck. Die an sich friedlichen Bewohner von Borkum werden auf die gleiche moralische Stufe gestellt, wie ein international agierender Pädophilenring oder die Mafia.
Einen Teil der medialen Empörung haben die Borkumer in Zeiten von Social Media mit zu verantworten. Durch die fehlende Gesprächsbereitschaft haben sie dem Narrativ der Vertuschung eine Tür geöffnet. Eine Ursache dafür war das Auftreten des Filmteams, das den einen oder die andere das befürchten ließ, was später eintrat. Die Idee, dass das „Schweigen“ der ungeschickte Versuch ist, das Fest vor medialer und kommerzieller Verwertung zu bewahren, entzog sich der Vorstellungskraft der Reporter. Es hätte die mit der Emotionalisierung verursachte landesweite Aufmerksamkeit gefährdet. Nur so konnte aus der Perspektive moralischer Selbsterhöhung die Projektionsfläche einer Inselgemeinde hergestellt werden, deren Rückständigkeit mit aller
Mediengewalt bekämpft werden muss. Dieses Konstrukt verfehlte seine Wirkung nicht und die Message wurde von der deutschen Medienlandschaft ohne Gegen-Check kritiklos übernommen. Es ist nicht auszuschließen, dass der daraus resultierende Shitstorm beabsichtigt war. Beleidigungen und massive Drohungen gegen unbeteiligte Insulaner und Polizeischutz für exponierte Personen wie die stellvertretende Bürgermeisterin wurden als Kollateralschäden billigend in Kauf genommen.
Die westfriesische Insel Ameland wurde 2024 aufgrund einer Reportage von PowNed über das dem Klaasohm
ähnlichen Sunneklaasfest einem vergleichbaren Shitstorm ausgesetzt. Der lokale TV-Sender Omrop Fryslân reagierte mit einer Dokumentation unter dem bezeichnenden Titel „Leve en late leve“ (Leben und leben lassen), in der die Ameländer die Möglichkeit erhielten, das Fest wertfrei aus ihrer Sicht zu erklären. Nicht so der NDR. Er legte noch eine Schippe drauf, indem er im Sommer 2025 ein ZAPP Team auf die Insel schickte. Unter dem Vorwand, den Insulanern die Chance der Richtigstellung zu geben, lockte man die Akteure vor die Kamera. In der anschließenden Ausstrahlung durfte die mehrfache Wiederholung der Schlägerszene aus dem Strg_F Bericht nicht fehlen, denn die Macht der Bilder verdammt alle erklärenden Worte zur Bedeutungslosigkeit. Quintessenz des Berichts war dann die Frage, ob die Borkumer Hinterwäldler endlich im Zeitalter der Gleichberechtigung angekommen seien. Zuvor hatte man allen Frauen, die sich positiv zum Fest äußerten, eine Art kollektives Stockholm-Syndrom unterstellt. Dass mittlerweile alle anhängigen Anzeigen und Ermittlungsverfahren gegen Polizei und Veranstalter wegen Substanzlosigkeit eingestellt worden waren, fand keine Erwähnung.
Als Gebührenzahler aus Überzeugung bin ich nach wie vor großer Fan des ÖRR. Er ist für mich ein wichtiges Bollwerk gegen Verdummungsfernsehen und die Fakenews der disruptiven Kräfte in unserer Gesellschaft. Gerade der NDR nahm bis November 2024 diesbezüglich eine Leuchtturm-Funktion ein. Ältere wie ich sind mit dem Sender als Synonym für Seriosität und Nähe zu den Menschen vor Ort aufgewachsen. Die Hilflosigkeit, wenn man als Betroffener ins Fadenkreuz der Berichterstattung gerät, hat mich eines Besseren belehrt. Inzwischen kann ich es nachvollziehen, dem NDR nicht nur mit Kritik, sondern mit Misstrauen begegnen. Das „Schweigen der Insel“ zielt einzig und allein auf Empörung und viele Clicks im Internet. Dafür wurde eine ganze Gemeinde
dem medialen Fraß vorgeworfen. Dieser Produktion einen Fernsehpreis zu verleihen, wird kein verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Die paar Exoten am nordwestlichsten Rand des Sendegebietes scheinen dieser Mühe sowieso nicht mehr wert zu sein.
Johannes Akkermann
(Dieses Schreiben ist im Original nach bestem Wissen in gendergerechter Sprache verfasst. Aus Gründen der Akzeptanz der Printmedien wurde in dieser Version darauf verzichtet.)
