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„Erinnern heißt Verantwortung übernehmen“ – Gedenkstele für Verschickungskinder auf Borkum enthüllt

Redakteur & Fotos: Andreas Behr

Am 30. Juli 2025 wurde auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in der Süderstraße auf Borkum eine Gedenkstele zur Erinnerung an das Leid der Verschickungskinder feierlich enthüllt. Trotz des trüben Wetters war die Atmosphäre von tiefer Anteilnahme geprägt. Die Stele, eine schmale Skulptur aus weißem Travertin, zeigt ein verängstigtes Kind mit erhobenen Armen vor einer rostfarbenen Stahlwand – ein Mahnmal für Millionen Kinder, die zwischen den 1920er- und 1990er-Jahren in sogenannte Kinderkuren verschickt wurden, darunter zehntausende nach Borkum. Besonders das Adolfinenheim und das katholische Heim Sancta Maria waren für viele ein Ort von Gewalt, Kälte und Ausgrenzung – statt der versprochenen Erholung erlitten viele Kinder hier tiefgreifende seelische Verletzungen.

 

Pastor Jörg Schulze von der evangelisch-lutherischen Christuskirche und der katholische Bildungsreferent Andreas Langkau führten mit würdevollen Worten durch die Veranstaltung. In ihrer ökumenischen Ansprache betonten sie die Kraft der Erinnerung, die Heilung ermöglichen kann, und riefen zu einer Kultur des Hinsehens und der Verantwortung auf. „Kinder sind eine Gabe Gottes“, sagt Pastor Schulze. Die Skulptur selbst stammt vom Bildhauer Friedhelm Welge, der als Kind selbst im Adolfinenheim war. In bewegenden Worten sprach er von einem langen Weg des Verdrängens und dem schmerzhaften Wiederentdecken seiner Erinnerungen – bis hin zur heutigen Einweihung, die für ihn ein Akt der Versöhnung und des Mitgefühls sei.

 

Im Anschluss an die Enthüllung der Skulptur und den Segen fand ein Empfang im Feuerwehrhaus statt, bei dem weitere Redner das Leid der Verschickungskinder würdigten und zur gesellschaftlichen Verantwortung aufriefen. Landesdiakoniepastorin Karin Altenfelder erinnerte an die von der Diakonie Bremen in Auftrag gegebene wissenschaftliche Aufarbeitung des Alltags im Adolfinenheim. Die Studie zeige ein System schwarzer Pädagogik – geprägt von Machtmissbrauch, seelischer Grausamkeit und dem Schweigen der Verantwortlichen. Sie forderte einen Kulturwandel, bei dem Zuwendung, Transparenz und Schutz der Schwächsten im Mittelpunkt stehen.

 

Auch Schwester Cordes Maria Reiker, Generaloberin Franziskanerinnen vom hl. Martyrer Georg zu Thuine, bekannte mit großer Aufrichtigkeit das Mittragen der Schuld ihrer Einrichtung und bat die Betroffenen um Verzeihung. „Ich kann die Frauen und Männer für das, was sie in unseren Einrichtungen erlitten haben und aushalten mussten, nur um Verzeihung bitten. Im Wissen erlittenes Unrecht damit nicht wiedergutmachen zu können, zugleich aber in der Hoffnung, dass wir so die Aufrichtigkeit unserer Haltung ausdrücken können.“ Sie betonte, dass der heutige Tag nicht der Schluss, sondern der Beginn eines offenen Umgangs mit der Geschichte sein solle.

Bürgermeister Jürgen Akkermann würdigte die Erinnerungsstätte als wichtiges Zeichen für Anerkennung, Aufarbeitung und Würde. Er lobte den respektvollen Umgang der Initiative Verschickungskinder mit der komplexen Vergangenheit. Gleichzeitig mahnte er zur Differenzierung, ohne das Leid zu relativieren: Die historische Aufarbeitung müsse zwar konsequent und ehrlich erfolgen, dürfe dabei aber auch die damaligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht ausblenden. Wichtig sei, das individuelle Leid ernst zu nehmen, ohne dabei in Pauschalurteile zu verfallen. Die Stadt Borkum stehe hinter dem Prozess der Aufarbeitung und trage ihren Teil dazu bei, Erinnerung, Verantwortung und Menschlichkeit sichtbar werden zu lassen.

Uwe Rüddenklau, Vorsitzender der bundesweiten Initiative Verschickungskinder e.V., sprach als ehemaliges Verschickungskind sehr persönlich über seine Erfahrungen. Er erinnerte an die große Zahl von rund 90.000 Kindern, die allein in das Adolfinenheim geschickt wurden – stellvertretend für geschätzt bis zu zwölf Millionen bundesweit. Die Gedenkstätte auf Borkum sei nicht nur ein Erinnerungsort, sondern ein sichtbares „Ausrufezeichen“ – Symbol für gelungene Zusammenarbeit von Betroffenen, Kirche, Kommune und Gesellschaft. „Es ist kein Ende, sondern ein Komma in der Aufarbeitung“, betonte Rüddenklau.

 

Silke Ottersbach, Heimortkoordinatorin der Borkumer Austauschgruppe, die selbst als Kind im Adolfinenheim war, schilderte eindrücklich, wie sie nach jahrzehntelangem Schweigen im Austausch mit anderen Betroffenen ihre Geschichte aufarbeiten konnte. Die Heimortgruppe sei für viele ein sicherer Raum des Verstehens und der gegenseitigen Unterstützung geworden. Sie dankte den „Ankermenschen“, die das Projekt der Erinnerungsstätte möglich gemacht haben.

Claus Fleischhauer, Mitbegründer des Projekts „Heim-weg“, sprach über seine vier Reisen nach Borkum – von der traumatischen Kindheitsverschickung bis zum heutigen Tag. Seine Worte machten deutlich: Nicht die Zeit heilt Wunden, sondern das Erzählen, das Erinnern, das Gesehenwerden – und das ernsthafte Bemühen einer Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen.


So wurde an diesem Tag auf Borkum ein Ort geschaffen, der dem Leiden unzähliger Kinder ein Gesicht und einen Raum gibt – und zugleich ein Anker auf Hoffnung auf Heilung und Versöhnung darstellt. Die Stele mahnt: Wegsehen und Verharmlosen darf keine Option sein. Erinnerung und Austausch und Dialog sind die ersten Schritte zur Gerechtigkeit. Mehr Informationen auf: www.verschickungsheime.de

 

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